Mehr Mut zur Platte

Die „Platte“: Einst geliebt, dann verpönt, zuletzt aber vor allem verkannt. Denn der einstige Wohn(t)raum der DDR bietet noch immer jede Menge Chancen. Weil das Grundprinzip der noch bestehenden Siedlungen bleibt: komfortabel, günstig und für jeden. Jetzt gilt es, die monotone „Platte“ bunt zu machen – und mit Leben zu füllen.

Schwärmen für Altbauwohnungen? Nicht in der DDR. Zugige, enge Räume, bröckelnde Fassaden und Treppenklos in den unsanierten Häusern weckten wahrlich kaum Begehrlichkeit. Das große Los war stattdessen die Neubau-Platte am Stadtrand. Bezahlbar, gut geschnitten und mit eigenem Bad. Das wollte jeder!

Wie es dazu kam? Der Mangel an Wohnraum nach dem Zweiten Weltkrieg machte es nötig: Der Staat wurde zum findigen Bauherrn beim zentralisierten Wohnungsbau. Grundlage dafür bot die Verstaatlichung von Grund und Boden. Und statt Altes nun kosten- und zeitintensiv zu sanieren, wurde dank staatlichem Wohnungsbauprogramm einfach komplett neu gemacht. Und zwar in Masse. Drei Millionen Wohnungen sollten bis 1990 entstehen, so das erklärte Ziel. Die Bestrebung, jedem eine eigene Wohnung zu schaffen, löste einen Bauboom in den 70er- und 80er Jahren aus, wie er seinesgleichen sucht.

Während der Altbau in den Zentren zusehends zerfiel, wuchsen an den Stadträndern die Plattenbausiedlungen in die Höhe, boten ein Heim für mehrere 100.000 Menschen. Bekannteste nahe Beispiele dafür sind die Beton-Viertel in Berlin-Marzahn oder Hellersdorf. Das Vorhaben schritt rasch voran. Bereits 1978 konnte die eine millionste Wohnung bezogen werden.

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Dabei ließ sich mit „Platte“ beinahe alles umsetzen. Neben Wohnraum entstanden Kitas, Schulen, Läden, sogar Schwimmhallen in Kastenbauweise. Die Stadtrandsiedlungen wie kleine Städte zu organisieren, sollte Wege – insbesondere junger Familie verkürzen – und sozialistische Gemeinschaften schaffen.

Das theoretische Prinzip der „Platte“ entsprach dabei rundum den real-sozialistischen Vorstellungen. „Gleicher Wohnraum für gleiche Menschen“, hieß die Devise. Hier sollte bestenfalls der Arbeiter neben dem Arzt wohnen. Das konnte allerdings nur gehen, wenn’s erschwinglich ist. Zwischen 80 Pfennige bis 1,25 Mark kostete der Quadratmeter vom Wohn(t)raum. Ohne starke Subventionen seitens des Staates ging das allerdings nicht, die Bewirtschaftungskosten waren nur zu einem Drittel gedeckt. Der Neubau wurde teuer.

Um Baukosten zu senken, mussten daher Sonderbauteile und regionale Varianten verschwinden. Es wurde mit Standardgrundrissen gearbeitet, um das sozialistische Bauen rationeller zu gestalten. Am weitesten verbreitet dabei die Fertigbauserie WBS 70 aus 1,20 Meter x 1,20 Meter Platten. Ein Exportschlager übrigens.

Als schick und modern galten die Wohnungen, die alle demselben Prinzip folgten. Wohnen und Essen wurde wieder separiert, eine abgetrennte Küche mit Essplatz entstand. Das Bad war innenliegend.

1973 wurde der erste WBS 70-Bau bezugsfertig. Seither prägten die sichtbaren Platten das Stadt- und Landschaftsbild der DDR. Trotz Einheitsbauweise war die WBS 70-Bau wandelbar wie kein anderer Plattenbautyp – hinsichtlich seiner Fassaden wie auch seiner Wohnungsgrundrisse. Ein Plus, das gemeinsam mit der stabilen Grundsubstanz bis heute gilt.

1984 übergab DDR-Staatschef Erich Honecker die zwei millionste Neubauwohnung. Dann wurde es eng. Die Ressourcen reichten nicht, um wie geplant weiter zu machen. Das erklärte Ziel, drei Millionen Wohnungen zu bauen, wurde offiziell 1988 erreicht. Vermutlich jedoch landeten Heimplätze und modernisierte Räume in der Statistik. Aber dennoch: Jeder dritte Bürger der DDR wohnte in „Platte“. Das war Weltspitze. In der BRD war es zum Vergleich nur jeder 60te.

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Wie sah er denn nun aus, der DDR-Wohn(t)raum? 55 Quadratmeter, drei Zimmer, innenliegendes Bad, meist bewohnt von der Kleinfamilie, die nach einem Punktesystem bei der Wohnraumvergabe gewann. Denn die heißbegehrten Vollkomfortwohnungen gab es nicht einfach so, teilweise mussten die Bürger lange auf einen Einzug warten. Während also in den 1980er Jahren die Mieter um den Platz in der Platte buhlten, wird heute um die Mieter gebuhlt. Denn das Image der „Platte“ hat ordentlich gelitten.

Mit der Wende leerten sich die Siedlungen. Die Ostdeutschen zogen weg – entweder gen Westen oder zumindest in die sanierten Altbauten der Stadtzentren. In den „Arbeiterschließfächern“ der DDR am Rande wollte niemand mehr wohnen. In den 1990er Jahren wurden aus vielen der einst exklusiven Wohngegenden soziale Brennpunkte. Ein sozialistisches Erbe, das zunächst auch Hohenstücken ereilte. Rund 20.000 Brandenburgern bot die Neubausiedlung einst Platz. Heute leben noch zirka 8.000 Menschen im nördlichen Teil der Havelstadt.

Einheitlich, trist, seelenlos – so stand die „Platte“ plötzlich in der Öffentlichkeit da. In beinahe jeder Kommune, die nach wie vor hauptsächlich in Besitz der Betonklötze waren. Bis sie sich für Abriss entschieden – oder fürs Umgestalten. So wie in Brandenburg, wo gezielter Rück- und Ausbau der Blöcke auf der Agenda steht. Mit viel Aufwand wurde und wird Hohenstücken zu einem offenen und grünen Wohngebiet umgestaltet. Die grauen Fassaden weichen nach und nach einer freundlicheren Version.

Und über allem stehen die Nutzer. Denn wie „sexy“ der Wohnraum eigentlich ist, entscheidet immer noch der, der darin lebt. Klar ist, die funktionalen Wohnungen geben jede Menge individuellen (Um-) Gestaltungsraum.

Womit es dann noch punkten kann? Mit der Nachbarschaft. In der „Platte“ wohnen aktuell viele, die dort schon immer ihre Heimat haben, sich gern an den „Luxus“ der Vollkomfortwohnungen erinnern. So liegt das Durchschnittsalter bei etwa 60 Jahren.

Aber auch die Jungen entdecken den Charme der ehemals heiß begehrten Siedlung für sich. Verkehrs-Infrastruktur, Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte, Kitas und Schulen – was einst für den Komfort mitgedacht wurde, funktioniert noch immer. Wer will, kann statt Betonwüste ein lebendiges Wohnquartier am Horizont erkennen.

Am Ende braucht es dafür nur eine Vision – und einen neuen Mut zur „Platte“.